Schlingensiefs Arbeitsweise ist vor allem gekennzeichnet von einer Metaebene aus Wirklichkeit und Fiktion. Aufgewachsen im Oberhausen der 1960er Jahre, ist seine Kunst eine direkte Konsequenz seiner Zeit, in der er zivilen Ungehorsam als oberste Bürgerpflicht wahrnahm. Indem er Politik, Geschichte, Privates und Kunst in eine zwangsläufige Abhängigkeit voneinander gesetzt hat, sind durch seine prozesshaften Formen des Arbeitens sogenannte Real-Performances entstanden. Diese sollen latente gesellschaftliche Konflikte zum Vorschein bringen und die Mechanismen der öffentlichen Erregung untersuchen.
Bei seinem Theaterdebüt 1993 sind in dem Stück 100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen die ausländerfeindlichen Tendenzen in der Geschichte der CDU-Politik entlarvt worden. Hierzu wurde eine Benefizgala für zwei, durch Brand obdachlos gewordene, Asylbewerber inszeniert, wobei die reale Notsituation der Betroffenen in einer fiktiven Showgala, mit Showtreppe, Talkshow-Sitzgruppe und Sitzpult, ad absurdum geführt wurde. Mit dem Bühnenbild und der Inszenierung hat Schlingensief mit diesem Stück das Konzept der heutigen Reality-TV-Sendungen vorweg genommen und daraus seine Arbeitsweise mit Schauspiel an der Grenze zur Real-Performance entwickelt, die sein weiteres Schaffen als Regisseur und bildender Künstler prägte. Ausschlaggebend ist aber auch, dass Schlingensief zwar an der Schmerzgrenze provoziert und dabei auch seine private Person als Teil seiner künstlerischen Prozesse „verbraucht“ hat, dennoch aber nie zu einer Persönlichkeit eines bestimmten Kunst-Raumes kulminierte. Georg Seeßlen bezeichnet Schlingensiefs Kunst „nomadisch“ und meint damit, dass es Schlingensief gelungen ist
[…] die Räume der gesellschaftlichen Sinnvergewisserung, das angeblich Hohe wie eine Kirche, wie das Wagnerische Festspielhaus, und das scheinbar Niedrige, wie eine Containershow […] zu durchstreifen, zu verändern, durch einen neuen Blick sichtbar zu machen und sie umgekehrt zu benutzen, um anderes sichtbar zu machen.
Schlingensief sah sich zunächst vor allem als Theater- und Filmemacher. Ein wirkliches Interesse an der bildenden Kunst weckte bei ihm der erweiterte Kunstbegriff Joseph Beuys‘ im Sinne einer klaren und mutigen gesellschaftlichen Haltung mit der Bereitschaft öffentlich zu agieren. Beuys‘ Aussagen
Jeder Mensch ist ein Künstler.
und
So wie der Mensch nicht da ist, sondern erst entstehen muss, so muss auch die Kunst erst entstehen, denn es gibt sie noch nicht.
spiegeln sich auch in Schlingensiefs Arbeitsweise wider. Hiermit meint Beuys, dass die kreativen Fähigkeiten eines jeden Menschen auf soziale gesellschaftliche Prozesse einwirken können, wobei der Mensch, als auch die Kunst, im Zuge solcher ästhetischer Metabolismen ständiger Veränderungen bedürfen. Diese symbolischen Stoffwechselprozesse markieren einen Moment der Wahrnehmung von Gesellschaft und dynamischen Prozessen, welcher um die Wahrnehmung selbst von Bedeutung sei, weil diese Prozesse innerhalb der Gesellschaft wirken und sich deshalb auch bewusst erkennen, verstehen und verändern lassen. In diesem Zusammenhang hat Beuys den Begriff der Sozialen Plastik geprägt, welcher unterstreicht, dass die Menschen einer Gesellschaft nicht nur Akteure innerhalb von Prozessen sind, sondern auch Material. Beuys‘ Honigpumpe ist eine solche Soziale Plastik, bei der die Energie von gesellschaftlichen Prozessen, die hier in einem Konferenzraum von miteinander agierenden Menschen produktiv sind, erzeugt wird und so eine Pumpe zur Herstellung und Verarbeitung von Honig angetrieben wird. Schlingensiefs Hybrid WorkSpace, welcher auf der documenta 1997 zu sehen war, funktioniert auf ähnliche Weise über gesellschaftliche Metabolismen. Es ist ein Performance-Media-Space, der als eine Art raumgewordenes Internet in der Funktion einer sozialen Schnittstelle und eines Katalysator wirken soll. Im Rahmen der documenta gab es Vorträge, experimentelle Videos und Musik, sowie die Kommune 1 Berlin als Re-Performance, die Geschichte machte und nachspielte. Hierbei wurden Zitate der Kommune 1 gespielt und mit dem Tagesgeschehen verknüpft. Unter anderem verkündete Schlingensief über Lautsprecher auf die Terrasse der Orangerie in Kassel:
Lady Di, die alte Schlampe, ist endlich tot!
Zusätzlich war auf einem Plakat vor der Orangerie zu lesen:
Tötet Helmut Kohl.
Zuviel für das gemeine Publikum. Gäste der Orangerie riefen die Polizei und Schlingensief sowie ein weiterer Beteiligter, Bernhard Schütz, wurden festgenommen. Ein Stück mit gesellschaftlicher Symbolik, bei der sich die Betrachter selbst involviert haben, weil sie das Knäul aus Kunst und Leben, Fiktion und Wirklichkeit, intellektuell nicht entwirren konnten.
Ähnlich provokativ und an der Grenze zur Eskalation verlief Schlingensiefs Projekt Ausländer raus – Bitte liebt Österreich, welches im Rahmen der Wiener Festwochen 2000 entworfen wurde. Das Wahlergebnis in Österreich im Jahre 2000, aus dem eine Koalition aus der konservativen Partei ÖVP mit der rechtspopulistischen Partei FPÖ hervorgegangen war, veranlasste Schlingensief dazu einen Container zu bauen, in den zwölf Teilnehmer, die als Asylbewerber anmoderiert wurden, für eine Woche auf ein rundum abgeschirmtes und kameraüberwachtes Gelände neben der Wiener Staatsoper einzogen. Unter Bezugnahme auf das RTL2-Spektakel BIG BROTHER, war die österreichische Bevölkerung dazu aufgerufen per Telefon täglich die zwei unbeliebtesten Insassen aus dem Container heraus zu wählen. Auch via Internet konnte abgestimmt werden. Dort übertrug die Firma Webfreetv sechs Tage lang rund um die Uhr die Ereignisse im Container. Jeden Abend um 20 Uhr mussten zwei Bewohner den Container verlassen, welche dann im Rahmen der Performance zum Flughafen gebracht wurden. Dem Sieger sollte ein Geldgewinn winken und, bei einem vorhandenen Freiwilligen, die Einheirat.
Die Funktion der Aktion als „Bildstörungsmaschine“ bezieht hierbei ihre Dramaturgie in ihrer Verselbstständigung. Durch die Verknüpfung des Populär-Phänomens BIG BROTHER mit der sozialen und politischen Wirklichkeit – die Bewohner des Containers waren auch in ihrem richtigen Leben Asylbewerber mit laufenden Verfahren und am Flughafen stehen auch in Wirklichkeit Container, in denen Flüchtlinge auf ihre Abschiebung warten – entsteht eine Art „Vorhof“ von Realität, in dem sich die Besucher der Wiener Festwochen bei Diskussionen fast die Köpfe einschlugen. Trotzdem wurden von den Veranstaltern aufgehängte Schilder zur Aufklärung von Schlingensief wieder abgehängt. Denn eine solche Aktion lebt von der Unsicherheit, die sich aus der Schlingensiefischen Vermischung von Kunst und Leben, Inszenierung und Wahrheit, ergibt.
Hierbei konnten einige gesellschaftliche Wahrheiten und Metabolismen in der Inszenierung offengelegt werden. Diese Offenlegung hat unter anderem die Ausländerfeindlichkeit der FPÖ als Geschäftsidee entlarvt, die auf populistische Weise in der Funktion einer Art „Ersatzwährung“ vermarktet wird, wobei die Anonymität des Internet-Zeitalters und die damit verbundene Möglichkeit alles und jeden zu verstellen als Bekenntnis, dass die Welt nichts anderes ist als Theater, gesehen werden kann. Auffällig in Bezug auf die Medienreaktionen zum Projekt ist der Eindruck, dass damals die Sorge um den Ruf Österreichs mehr im Mittelpunkt zu stehen schien als die Problematik bezüglich Asyls und Ausländerfeindlichkeit. Im Verlauf der medialen Diskussion haben Schlingensief und die weiteren Beteiligten des Projektes festgestellt, dass sich die Allgemeinheit damit abgefunden hat, dass die Bewohner des Containers Schauspieler seien und der Fokus wieder einmal auf eine angebliche Grenzwertigkeit der Kunstaktion gerichtet wurde.
Bei einer zwischenzeitlichen Pressekonferenz versuchte ein Theaterkollege Schlingensiefs die Funktion der Aktion und die Unsicherheit in der Beurteilung zu erklären und verwies mit dem Mechanismus des Eliminationsspiel auf ein weiteres Kriterium von gesellschaftlicher Relevanz. Der Kern dieses gesellschaftlichen Mechanismus‘ ist die Vorgehensweise, bei der, um einen Gewinner zu haben, vorher viele Verlierer produziert werden müssen. Das Augenmerk liegt also auf dem Mechanismus des Eliminierens. Hier zeichnet sich eine gesellschaftliche Entwicklung ab, in der eine Art technokratisch-ökonomistischer Faschismus entstehen kann. Die Globalisierung wird zu einem totalitären Prozess, bei dem die Möglichkeiten der Technologie sowie der uneingeschränkte Zugang zu Genuss, der rein ökonomisch ist, nicht gestört werden dürfen. Doch ungestörter Konsum bedeutet letztendlich ungestörte Überwachung…
Gleichzeitig haben die Demonstranten, die gegen Ende der Containershow das „Ausländer raus“-Plakat mit dem Logo der FPÖ und der konservativen Kronenzeitung entfernten und dabei
Widerstand!
und
Freiheit für die Asylanten!
riefen, die Selbsttäuschung einer elitären Demonstrationsgesellschaft gezeigt. Von welcher Freiheit ist die Rede? Es mag die Kunstfreiheit geben und eine sogenannte repräsentative Demokratie, in der eben auch Politiker der FPÖ gewählt werden können. Aber Asylbewerber sind abhängig von ihren Verfahren und können nicht entscheiden, ob die Freiheit in ihrem Land für sie ausreicht.
Schlingensiefs Fazit könnte man unter seiner Aussage
Widerstand reicht nicht mehr. Sie müssen Widersprüchlichkeiten erzeugen.
zusammenfassen. Schlingensief versuchte dies, indem er verschiedene Systeme ‚auffordern wollte zu tanzen‘ und wir das Bild dann aushalten müssen. Damit hat er reale Widersprüchlichkeiten an die Kunst gebunden, welche durch ihre Unangepasstheit „passbar“ und offenbar werden sollen, um die Gesellschaft wenigstens kurzzeitig aus ihrem Konsum-Kokon aufschrecken zu lassen.
Schlingensiefs Werk ist ziemlich vielseitig, vor allem wenn man auch noch seine Arbeit als Theater- und Filmemacher berücksichtigt. Die Real-Performance Ausländer raus – Bitte liebt Österreich und andere Performances im öffentlichen Raum erhalten besonders durch ihr Einschneiden ins Alltagsgeschehen – die Wienaktion wurde auf den renommierten Wiener Festwochen gezeigt, wobei der Container direkt neben der Staatsoper aufgebaut wurde – sozial-integrative Relevanz. Außerdem ist das Thema von Asylproblematik und Ausländerfeindlichkeit aktueller denn je. Gerade jetzt könnten wir einen Provokateur wie Schlingensief als gesellschaftlichen Seismographen gebrauchen…
Autor: Nora Wessel
Bildnachweis © schlingensief.com
Literatur:
- Ausst.-Kat. anlässlich der Ausstellung KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 1. Dezember 2013 – 19. Januar 2014 / MOMA PS1, New York, 9. März – 1. September 2014, hrsg. von Klaus Biesenbach u. a., Köln 2013.
- Schlingensief, Christoph / Laberenz, Aino: Ich weiß, ich war’s, Köln 2012.
- Janke, Pia [Hrsg.]: Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, Wien 2011.
- Mühlemann, Kaspar: Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit Joseph Beuys, Frankfurt a. M. 2011.
- Dokumentation von Lilienthal, Matthias / Philipp, Claus: Schlingensiefs Ausländer raus / Bitte liebt Österreich, Frankfurt a. M. 2000.
- Schlingensief Aktion / Bitte liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche, 2000, http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t033 (08.07.2014).
- Dokumentarfilm Ausländer raus! Schlingensiefs Container, Regisseur Paul Poet, Produktion 2001.
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Ein Kommentar zu “Performance und Provokation: Christoph Schlingensief”