“If I don’t die I will survive.“: “Zvizdal“ zeigt ein intensives Portrait zweier starker Persönlichkeiten, die auf beeindruckende Weise die Strahlung, vor allem aber die Isolation, gemeinsam überleben

Anmerkung zum PROJETO BRASIL im tanzhaus nrw düsseldorf: Termin bedingt konnten wir leider doch nicht die vorgesehene Performance am 24./25. Juni besuchen. Wir würden uns aber sehr über Feedbacks von Besuchern des PROJETO BRASIL freuen, die eine der Veranstaltungen des Festivals in Düsseldorf, oder den anderen teilnehmenden Städten, besucht haben. Vielen Dank schon mal im Voraus!

 

Die Künstlergruppe BERLIN, bestehend aus Bart Baele und Yves Degryse, arbeiten seit 2003 an ihrem Filmzyklus Holocene Städte und Regionen, in dem sie außergewöhnliche Orte portraitieren, in denen der moderne Mensch auf unterschiedliche Weise seine Spuren hinterlassen und diese Orte damit geprägt hat. Bislang haben sich die Künstler mit Jerusalem, Iqaluit (Alaska), Bonanza (USA) und Moskau auseinander gesetzt.

Im Zuge des Filmzyklus‘ Holocene zeigen BERLIN in ihrer aktuellen Arbeit Zvizdal [Chernobyl – So far so close] die mitunter unfassbare Lebensrealität von Pétro und Nadia, ein altes Ehepaar, das seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 als einzige Bewohner in ihrem, in der Todeszone gelegenen, Heimatdorf Zvizdal geblieben ist. Inzwischen weit über 80 Jahre alt, leben Pétro und Nadia seit 30 Jahren in völliger Isolation. Ohne andere Menschen, Strom und Telefon, bestreiten die mittlerweile gebrechlichen Alten ihr Leben als völlige Selbstversorger, pflügen Jahr um Jahr den verseuchten Boden, um darin Kartoffeln oder Getreide anzupflanzen. Die einzige Gesellschaft bilden eine Handvoll Tiere, ein ebenso gebrechliches Pferd, eine magere Kuh, ein Hund und eine Katze, sowie ein paar Hühner. Zusammen mit der französischen Journalistin Cathy Blisson, begleiten BERLIN die beiden fünf Jahre lang und ermöglichen mit ihrer multimedialen Video-Performance einen Einblick in deren Alltag und Gedanken. Beeinflusst von Vodka, Aberglaube, Gesang und Gebet kreisen diese um Heimat und Stolz, Einsamkeit und Erwartung.

Hauptsache man ist gesund.

Aussagen wie diese lassen den Betrachter über das Durchhaltevermögen und die gleichzeitige Dickköpfigkeit der Alten staunen. Die Natur hat schließlich auch weiter gemacht. Um sie herum ist durch die Abwesenheit der Menschen ein Naturidyll aus wilden Wäldern entstanden, die sich den Boden zurück erobert haben. Umgeben von der allgegenwärtigen farb- und geruchlosen Strahlung, versuchen Pétro und Nadia es ihr gleichzutun.

Das Set-Up setzt sich aus einer großen Leinwand und Miniatur-Modellen des Lebensraums von Nadia und Pétro zusammen, wobei diese in das filmische Geschehen auf der Leinwand durch komplexe Videotechnik mit einbezogen werden. Die verwobenen Bilder und Eindrücke verdichten das Geschehen und Erzählte zu einem intensiven multimedialen Erlebnis, sodass man sich den beiden Protagonisten und deren Lebensraum schmerzlich nahe fühlt. Filmische Perspektiven der first und third person, gepaart mit eindringlichen Sounds, zwischen den Interview Sequenzen verstärken das Gefühl diesem Ort zu nahe zu kommen, lassen uns dessen verstrahlte Lebensfeindlichkeit spüren.

Eine Lebensfeindlichkeit die für Pétro und Nadia nicht existiert, weil sie nicht entscheidend ist, denn…

Nichts auf der Welt ist so wie dein Zuhause.

Ihr größtes Problem ist die Isolation in Verbindung mit ihrem körperlichen Verfall. Die größte Gefahr, wenn einer der beiden stirbt…

Im Anschluss an die Vorstellung kommt im Künstlergespräch mit Bart Baele die Frage auf, ob deren Arbeit zu sehr in die Privatsphäre der Protagonisten eindringt. Pétro und Nadia kommen uns in dem intensiven Portrait unbestritten sehr nahe, so nahe, dass eine emotionale Verbindung, fast Vertrautheit, zu entstehen scheint. Trotzdem schaffen es BERLIN, aus meiner Sicht, eine respektvolle Distanz zu wahren. So gibt es beispielsweise keine Aufnahmen von den Innenräumen der Hofanlage. Bart Baele bestätigt, dass die Auswahl der Filmsequenzen eine von Empathie und Respekt ausgehende Sisyphusarbeit ist, bei der aus Sicht der Verantwortlichen zu private Aufnahmen nicht ausgewählt werden. Schließlich sind die Aufnahmen von Wert, die jenseits von Voyeurismus dem Betrachter eine Aussage und einen Denkanstoß bieten.

Letztendlich ist es vor allem die fast unfassbar starke Persönlichkeit der beiden Alten, die mich stark berührt hat. Somit ist Zvizdal auch kein Stück über Chernobyl oder radioaktive Verstrahlung, sondern ein Manifest der Menschlichkeit, die gegen alle Widerstände in einer Welt, die die Menschen zerstören, überleben kann.

Nach der Deutschlandpremiere am vergangenen Wochenende in Essen reist BERLIN mit der Produktion Zvizdal weiter nach Berlin, wo das Stück beim Festival Foreign Affairs, im Rahmen der Berliner Festspiele, gezeigt wird.

Autor: Nora Wessel

 

Literatur:

 

© 2016

Veröffentlicht von modernperformingart

Nora Wessel (M.A.), Kunsthistorikerin und Romanistin. Agentur für Kunstberatung. Master Abschluss im Frühjahr 2020 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Masterarbeit in der Professur KUN IV – Bildwissenschaft für moderne und zeitgenössische Kunst und Kunsttheorie. Bachelor Abschluss 2013 im Fach Kunstgeschichte und Romanistik/Spanisch an der Universität Osnabrück. Teilnahme am Ausstellungsprojekt des Kunsthistorischen Institutes im WS 2010/11, Mitgestaltung der Ausstellung „gestalten, forschen und erfinden – idee und erbe der systematischen nichtfigurativen kunst“, in Kooperation mit der VG-Initiative Osnabrück in der Sparkasse Osnabrück und den Folgeausstellungen im WS 2011/12 „Carl Krasberg – farbe²“ und „Diethelm Koch – Der Kosmos denkbarer Möglichkeiten“ auf der Ausstellungsfläche martini|50 und in der galerie vordemberge-gildewart. 3-monatiges Sprachpraktikum auf Fuerteventura 2011, im Stella Canaris Hotels & Resort (Bereich Hotelmanagement); 2-wöchiger Sprachkurs in Vancouver/Kanada 2007. Seit Juli 2019 im Team von Colonia Art als Texterin und für die Korrespondenz mit Künstlerinnen und Künstler sowie die Organisation der Materialien und Status der Präsentationen. Weitere Veröffentlichungen: „Farbe Form Format – Konzepte offener Bildprozesse“, zusammen mit Christin Albrecht, in: Ausstellungskatalog zur Ausstellung „gestalten, forschen und erfinden – idee und erbe der systematischen nichtfigurativen kunst“, Osnabrück 2011. Rubrik „Wahl des Kurators“ auf der Kunstplattform Colonia Art: https://www.colonia-art.com/de/content/13-wahl-des-kurators Kunst ist so essentiell wie ein ‚Lebensmittel‘, Nahrung für den Geist und die Seele. Ich bin seit der Kindheit fasziniert von allen Formen künstlerischen Ausdrucks, neben den sogenannten Bildenden Künsten interessiere ich mich auch für Musik und Literatur. Ich bin immer wieder berührt und erstaunt von der Unmittelbarkeit und Präsenz, die in Klang, Poesie, Performance und in Farbe und Form zum Ausdruck kommen. Diese kreativen und vornehmlich textlosen Formen der Kommunikation kreieren eine universelle Sprache der Auseinandersetzung, die jeder verstehen kann und somit zutiefst menschlich sind. https://linktr.ee/modernperformingart

3 Kommentare zu „“If I don’t die I will survive.“: “Zvizdal“ zeigt ein intensives Portrait zweier starker Persönlichkeiten, die auf beeindruckende Weise die Strahlung, vor allem aber die Isolation, gemeinsam überleben

  1. Ich finde es faszinierend, dass Ignoranz und Beharrlichkeit fast alle Widrigkeiten des Lebens überwinden können. Die beiden „Alten“ sind für mich ein gleichermaßen grandioses wie erschreckendes Beispiel für die Fähigkeit des Lebens, allen wissenschaftlichen Erkenntnissen in einer dermaßen gnadenlosen Deutlichkeit zu widersprechen. Diese „Todeszone“ wird für mich durch ihr Beispiel zu einem Sinnbild des Lebens – selbst dann noch, wenn alles verloren scheint.
    Vielen Dank für diesen Beitrag. Er hilft mir gerade sehr, meine Sicht auf die Welt wieder in eine neue und positive Richtung zu lenken.
    (Jetzt gerade auch ganz unabhängig und jenseits der Kunst. Und gleichzeitig ist die Kunst hier jetzt Therapeut und Mittler der ersehnten Heilung…)
    🙏💚🤗

    Gefällt 1 Person

    1. Und es führt ebenso deutlich vor Augen wie wenig es zum Leben braucht, sodass man hier mit einer Art puren Menschlichkeit konfrontiert wird. Schön finde ich den Gedanken vom Sinnbild des Lebens, da ich in meinen Betrachtungen von einem performativ-gesellschaftlichen Gesamtkunstwerk aus Kunst und Leben ausgehe. 🙃😊

      Gefällt 2 Personen

      1. Konfrontiert mit purer Menschlichkeit:
        Eine gute Zusammenfassung des eigentlichen Problems – und zugleich seine Lösung.
        Vielen Dank für diesen Denkanstoß, auch im Sinne des „performativ-gesellschaftlichen Gesamtkunstwerk(es)“.
        🙏👍🤗

        Gefällt 1 Person

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